Einmal noch jung sein...

  

   Am Wochenende traf ich bei einer Hochzeitsfeier Verwandte und Freunde, die ich schon ewig lange nicht mehr gesehen hatte. Und schon seit langer Zeit nicht mehr in den Arm nehmen konnte. Es war ein Tag wie im Bilderbuch – Sonnenschein, gutes Essen, tolle Getränke, Musik vom Feinsten. Was will ein Herz mehr, nach dieser Zeit des Stillstands und des Zurückziehens?

Endlich wieder in lächelnde Gesichter schauen können, Freude und Anteilnahme sichtbar ausgedrückt gesehen, tat der Seele aller Anwesenden gut. Natürlich denkt man bei einer solchen Feierlichkeit an die eigene Hochzeit vor 60 Jahren zurück. Vergleiche darf man natürlich da nicht anstellen – wäre auch unverständlich bei dem schnellen Wandel der Zeit, dem wir alle unterliegen. Doch das hat nichts mit meinem Titel „ Einmal noch jung sein …“ zu tun. 

Er betrifft die Geschichte über einen Mann, der mit 97 Jahren auf einem Reha-Aufenthalt war. Eine Bekannte erzählte mir von ihrem schweren Berufsalltag als Krankenschwester. Und von ihrer Erfahrung mit alten Menschen, die von ihrem Leben erzählen. Ein langes Leben gleicht einem Rucksack, der immer schwerer wird. Angefüllt mit allem, was das Leben so bietet. 

Sie verspürt die tiefe Dankbarkeit, wenn jemand am Ende des Lebens sich öffnet und einen Blick in seine Seele gewährt. Das Leben und seine Erfahrungen hinterlassen bei jedem ihre Spuren. Nicht nur am Äußeren, sondern vor allem an der Seele. 

Dass es nicht immer traurige und belastende Begegnungen mit alten Menschen gibt, davon erzählte mir die Bekannte mit einem Lächeln in einem ruhigen Moment. „In unserer Reha habe ich einen Mann von 97 Jahren kennengelernt, der aus Prinzip nie den Lift in den dritten Stock genommen hatte. Er bestand darauf, die Stiegen hochzusteigen, um seine Kondition zu verbessern. Eines Tages, es war drückend und schwül, da begegnete ich ihm im zweiten Stock, wo er rastete. Schweratmend hielt er sich am Stiegen Geländer fest, und, als er meiner ansichtig wurde, sagte er entschuldigend: „Einmal noch müsste man halt 90 sein!“

Besagter Herr ist im Alter von 104 Jahren in die andere Welt gegangen. Und hat  eine Weisheit der besonderen Art hinterlassen: „ Das Kostbarste ist immer kostenlos!“



 Kunst oder Kitsch? 

 
Ich gehe sehr gerne zu Lesungen und Vernissagen. Man will ja sehen, wie andere sich und ihre Werke präsentieren. Ein besonderes Erlebnis hatte ich vor einiger Zeit – vor Corona – bei einer Vernissage.
Mir war langweilig. Relativ fremd in der Stadt und deshalb dankbar für die Möglichkeit, etwas für den eigenen Kulturgenuss zu tun.
Im Gedränge hauptsächlich weiblicher Besucher sprintete zielsicher ein Traum von einem Mann zu mir und sprach mich an. „Gefallen Ihnen die Bilder?“ wollte er wissen und schaute dabei intensiv auf mein Dekolleté.
Ich wusste nicht so recht worauf er hinauswollte. War er der Maler oder einfach nur ein neugieriger Besucher? War sein Interesse echt oder wollte er seinen Charme ausprobieren? Da hätte er unter den wesentlich jüngeren Besucherinnen sicherlich mehr Auswahl.
Ich betrachtete das Bild, vor dem wir beide standen und überlegte meine Worte, damit sie nicht Gefühle verletzend wirkten. Er griff nach meinem Arm und führte mich ganz nahe an das Werk heran. Ein tiefschwarzer Untergrund mit einigen lichten Streifen, gekrönt von einem hellen Fleck am oberen Bildrand. Ich bemühte mich den Titel zu entziffern, was nicht einfach war. „Vollmondnacht“ las ich, und getraute mich nicht auf den Preis zu schielen, der sicher nicht ohne Grund fast unleserlich war.
„Sehr ungewöhnlich“, merkte ich an. Er nickte begeistert und klärte mich auf: „Eine Form drückt sich immer auch als etwas Formloses auf. Darin wird eine unsichtbare Energie auf ungewöhnliche Art sichtbar“. Noch ehe ich mir eine Antwort zurechtlegen konnte, redete er weiter. „ Dieses Bild ist aus einer persönlich gewachsenen Überzeugung heraus entstanden. Es hat während des Malens eine Umwandlungsprozess stattgefunden?“
Ich murmelte „Tatsächlich?“
Er war sowas von begeistert und zeigte auf den fahl schimmernden Fleck am Bildrand. „Mich reizt es vor allem, die Dinge realistisch darzustellen und sie andererseits zu transzendieren.“ Ich konnte nicht schon wieder „Tatsächlich?“ sagen, also schwieg ich. Das dauerte ihm zu lange. Er drückte mir den Katalog mit den Preisen in die Hand und suchte sich ein kauffreudigeres Opfer. Meinem Mann erzählte ich, dass ich ein Bild fast gekauft hätte, weil ein Vollmond in einer stark abstrahierten Landschaft konkret herausgehoben wurde. Er war ein zentraler Blickpunkt, weil der Mond ja das Beharrende, trotzdem Wachsende und gleichzeitig Seiende, symbolisiere.

Der fragende Blick meines Mannes war „malenswert!“
 

Oma, das hätte ich nicht von dir gedacht! 

 
     Meine erwachsene Enkeltochter ruft mich am Festnetz an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Wir reden über dies und das und bedauern, dass wir uns schon so lange nicht sehen konnten – Corona! Schließlich liegen mehr als 200 Kilometer zwischen uns und in dieser Zeit einfach mal schnell auf einen Kaffee vorbeikommen geht nicht.
Sie erzählt mir von ihrem Berufsalltag und was es so Neues gibt. Da läutet mein Handy, das neben mir liegt und der nette Herr von der Bank ist dran. Ich wollte das Gespräch mit meiner Enkelin noch nicht beenden und sagte zu ihr. „Bitte warte kurz, ich krieg grad einen Anruf aufs Handy. Mit der einen Hand hielt ich das eine Telefon etwas weg von mir, während ich mit der anderen Hand das Gespräch am Handy annahm. Der Beamte bedauerte, dass die Bank die von uns bestellten Goldmünzen zurzeit nicht liefern könne. Sie hätten seit längerem schon Lieferschwierigkeiten mit den 2 Gramm. Ob ich vielleicht lieber 1 Gramm in größerer Anzahl haben möchte, fragte er und ich sagte, mein Mann werde bei ihm vorbeischauen und beendete das Gespräch.

Als ich mich wieder meiner Enkelin zuwandte, sagte sie ganz entgeistert: „Oma, wenn ich dich nicht besser kennen würde, dann müsste ich mir jetzt die größten Sorgen machen.“
Ich war mir keiner Schuld bewusst und fragte perplex: „Weshalb solltest du dir Sorgen machen?“ Ich konnte ihr ja nicht verraten, dass wir einen kleinen Vorrat für diverse Festlichkeiten anlegen wollten. So nach dem Motto: „Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzel, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel. Doch die Erfahrung von Großeltern ist, dass sie Geld immer gerne nehmen.“

Darauf sagte sie: „Ich habe nur Bruchstücke mithören können. Oma, wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich jetzt gemeint, du bist unter die Drogenabhängigen geraten. Von wegen Lieferschwierigkeiten bei den 2 Gramm und ob vielleicht 1 Gramm auch geht?“
Danach lachten wir beide herzlich. Solche Diskurse können sich nur aus den Augenblicken ergeben. Das kann man nicht planen…